Unsere Lieblingsbücher

Das Mädchen in Rot

Bildquelle:
 Gerstenberg Verlag
Das Mädchen in Rot
ein Text von Aaron Frisch
Idee und Bilder Roberto Innocenti
32 Seiten
1. Aufl. 2013
Gerstenberg Verlag
ISBN 978-3-8369-5742-7
16,95€


Ein Bilderbuch für Kinder ab 6 Jahren und Erwachsene
Das alte Märchen vom Rotkäppchen modern adaptiert.


Wie nähert man sich einem Buch von Roberto Innocenti am besten?
Eine Frage die mich schon vor über 25 Jahren beschäftigte, als ich im Studium über das Buch "Rosa Weiss" eine Facharbeit schreiben musste.
Bis heute bin ich einerseits von seinen unglaublichem Illustrationsstil beeindruckt andererseits kommt in mir auch immer eine gewisse Hilflosigkeit auf.
Hilflosigkeit, angesichts der Unmenge an Eindrücken, die auf einen einstürmen. Selbst wenn man sich nur einer Seite widmen würde wird man auch bei der 100sten Betrachtung noch etwas neues entdecken, so unglaublich viel Informationen liegen in einem einzigen Bild.
Sein Illustrationsstil ist besonders. Sehr besonders. Nicht unbedingt etwas für kleine Kinder. Etwa ab dem Grundschulalter sind sie in der Lage Geschichte und Bildern zu folgen.
Aber wer sagt, das Bilderbücher nur etwas für Kinder sind?
Roberto Innocentis  Bücher fordern den Leser und Betrachter in ganz besonderer Form. Zuweilen hat man das Gefühl er mutet einem etwas zu. Duster und irritierend auf den ersten Blick muss man sich erst einmal in das Buch und die Bilder hinein finden um den Zugang zu seinen Geschichten zu finden. Gelingt es einem diesen Zugang zu finden eröffnet sich einem eine faszinierende, neue, spannende Welt.
Seine Illustrationen vereinen die unterschiedlichsten Illustrationsstile. Elemente des Comics, der Grafic Novels, Streetart und fotorealistische Einflüsse sind wohl die markantesten die hier zu erwähnen sind.
*
In diesem Buch hat sich Roberto Innocenti dem alten Grimm Märchen vom Rotkäppchen gewidmet und es angepasst an die heutige Zeit erzählt.
Den Text zu diesem Buch hat Aaron Frisch geschrieben. Würde man den Text nur so für sich lesen würde man nicht erahnen was auf einen in diesem Bilderbuch zu kommt. 
Als ich das erste Mal dieses Buch in den Händen hielt und es hin und her wendete viel mir das Rückseitige Cover auf.
Recht dunkel gehalten viel Grau, ein wenig im industriell Style.
Kinder sitzen um einen großen Tisch herum. Ringsum modernes und etwas älteres Spielzeug.
Doch das wirklich Besondere, das mich sofort in den Bann zog ist etwas anderes. Auf dem Tisch sitzt auf einem Stuhl eine alte Frau mit Kopftuch und Strickzeug. Rechts und Links zwei leuchtende kleine Wollknäule. Bei älteren unter euch  Lesern werden vielleicht werden bei der Beschreibung vielleicht fast vergessene Bilder wach.
Gab es doch früher im Südwestfernsehen. Von 1972 bis 1981 war die strickende schwäbische Oma Marionette im Schaukelstuhl so eine Art Anmoderation für das Seniorenprogramm "Schaukelstuhl" . Später war sie Maskottchen des SWR Fernsehen.
Ob Roberto Innocenti diese Figur jemals gesehen hat wage ich zu bezweifeln angesichts der Tatsache, dass er in Italien zuhause ist, doch für mich persönlich war die bunte kleine alte Frau der Schlüssel , das Tor ins Buch.
Diese alte Geschichten Oma erzählt den Kindern auf sehr geheimnisvolle Art ihr Märchen vom Rotkäppchen.
"Rückt zusammen ich will euch eine Geschichte erzählen. Spielsachen können Spaß machen. Eine gute Geschichte aber ist magisch...... Und sie können sich verändern wie die Wolken am Himmel."
Sagt die Oma und beginnt zu erzählen.
Sie führt die Kinder in ihre Geschichte in dem sie ihre Zuhörer gedanklich in den Wald führt. Doch wer nun denkt Rotkäppchen spiel ja zum größten Teil im Wald, das ist nichts besonders, der irrt, denn ihr Wald hat so gut wie keine Bäume sondern spielt im anonymen, hecktischem Dschungel der Großstadt. Beton und Ziegelsteine, trist, trostlos wenig Farbe. Hier lebt jeder für sich aber nicht unbedingt unzufrieden. Am Rande dieses Betonwaldes wohnt Sophia. Ihre Großmutter wohnt am Ende. Wenn Sophia sie besuchen möchte, so bedeutet dies einmal quer durch diesen Wald ( ich würde es ehr als Dschungel bezeichnen) .
Ich denke jeder der einmal in einer fremden Großstadt versucht hat ohne Ampelanlagen eine stark befahrene Straße zu überqueren, der wird wissen wie sich ein Kind fühlen muss, das sich versucht durch diese hektische Welt zu kämpfen.
Nicht nur auf Sophia wird mit unendlich vielen Eindrücken konfrontiert. Eindrücke, die bekannt sind. Eindrücke, die schön sind aber auch Eindrücke, die überfordern und Angst machen können.
Roberto Innocenti nimmt uns mit in seine für uns gestaltete Welt. Führt uns in die Welt der Straßenmusiker, Demonstranten, der hektischen Verkehrswelt mit breiten voll befahrenen Straßen, Wolkenkratzer, Lichtshows, Hochbahnen. Der Welt der überdimensionalen Werbeplakate, Einkaufspaläste aber auch der wenig schönen Hinterhöfe in denen Gefahren lauern. Rockergangs und Halbstarke, die auf so kleine unbedarfte Mädchen lauern aber auch vermeidliche Helden, die im richtigen Augenblick zur Stelle sind um zu helfen und sich erst viel später als Bösewichter herausstellen.
Wir kennen das Märchen vom Rotkäppchen alle nur zu gut. Die bangen Fragen des arglosen Mädchen an die vermeidliche Großmutter, die uns erschaudern lassen, die scheinbar nachvollziehbaren Antworten und dann wird sie genauso gefressen wie die Großmutter. Traurig. Grausig, und dennoch gehört es zu unserer Märchenkultur denn zum Schluss wird alles gut.
Innocentis Ende ist ähnlich und doch so anders, denn es endet fast wie es beginnt.
 Die strickende Großmutter fragt die Kinder, die traurig und weinend das scheinbare Ende hörten:" Wisst ihr noch, wie das mit den Geschichten ist?
Geschichten sind magisch.
Wer sagt, dass sie nur ein Ende haben können?"
Im Raum in dem die Kinder sitzen ist es  noch dunkler geworden. In diesem Dunkel leuchtet die strickende Geschichtenerzählernin noch intensiver. Der Schal scheint unendlich lang geworden zu sein. Sein Ende können wir nicht erkennen.
 Sein Gelb und Orange leuchtet wie die Großmutter voller Zuversicht und dennoch ist die Geschichte hier noch nicht zu Ende.
Eine Einsatzmannschaft der Polizei und einer Spezialeinheit stellt den "bösen Wolf" unter enormer Medienpräsenz. Sophia umarmt ihre Großmutter und ihre Mutter.
Ende gut alles gut!
Happy End!
Ende gut alles gutAber wirkt es wirklich so erlösend, erleichternd wie das Original?
Das muss jeder selbst entscheiden.
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Eines ist klar, dieses Buch birgt reichlich Gesprächsstoff.
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Ein kunstvolles Buch, mit eigenwilliger Interpretation / Adaption eines alten Märchens.
Ein Buch mehr für ältere Kinder und besonders auch für Erwachsene.
Für Kunstinteressierte, die sich in den Illustrationen verlieren können.
Für den Schulunterricht um aufzuzeigen wie sich Märchen verwandeln lassen und welche Wirkungen sie durch diesen Wandel erzielen können.
Was auf jeden Fall in Erinnerung bleibt ist die poetische Botschaft:

"Gute Geschichten sind magisch. Sie können sich verändern wie die Wolken am Himmel."


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