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Opa hat Krümel im Kopf

Bildquelle: Brunnen Verlag
Opa hat Krümel im Kopf
von
Ruth Katharina Breuer
illustriert von Paran Kim
28 Seiten
1. Aufl. 01. August 2024
ISBN: 9783765559891
Brunnen Verlag
16,00
Auf euch wartet eine wundervoll erklärende Geschichte über Demenz.
Über das Vergessen, die Veränderungen und auch das, was es für familiäre Veränderungen gibt.
Für Kinder ab 4,5 Jahren
Leider gibt es immer noch relativ wenig Bilderbuchgeschichten zum Thema Demenz, umso schöner ist es, wenn man dann ein Buch wie dieses entdeckt, dass sich nicht nur dem Thema widmet, sondern auch so anschaulich und wundervoll erzählt, dass Kinder sich zu jeder Zeit in den kleinen Protagonisten Kalle und die Erzählung hineinversetzten können.

Kalles Opa hat Alzheimer, man kann auch Demenz sagen.
Während Kalle immer mehr dazu lernt, vergisst Kalles Opa immer mehr, was Ruth Katharina Breuer einfühlsam mit mehreren Vergleichen in die Handlung einbindet. Da hören wir von früheren Momenten, wo Kalle auf dem Arm des Opas vor der Standuhr steht und der sich für Kalle lustige "Zeitnamen" wie "viertel vor Spiegelei" oder zehn nach Stachelschwein" ausgedachte. Damals haben alle gelacht. Damals war Kalle auch noch klein und konnte keine Uhr lesen.
Für Kalle ist der Opa nicht nur eine wichtige Vertrauensperson, er ist sein großes Vorbild. Wir kennen das alle, Großeltern sind für Kinder etwas ganz Besonderes. Sie sind meist gelassener, haben mehr Zeit als die Eltern und machen oft schöne Dinge mit ihren Enkeln.
Genauso ist es bei Kalle.
Doch die Zeit verging. Kalle wurde älter und sein Opa auch.
Mittlerweile lernt Kalle die Zeit anhand einer Pappuhr, doch mit der kann sein Opa gar nichts mehr anfangen. Er weiß nicht, dass es eine Uhr ist und er kann auch nicht mehr die Uhrzeit an der alten Standuhr ablesen. 
Kalle versteht anfangs nicht, wieso der Opa oft so teilnahmslos oder seltsam reagiert und bemerkt auch, dass der Opa immer mehr vergisst. Seine Eltern versuchen ihm kindgerecht und anschaulich zu vermitteln, was im Gehirn des Opas passiert. Dass sein Gehirn nicht mehr so arbeitet, wie es sollte, dass das Gehirn normalerweise alles, was wir erleben, lernen und erleben in kleinen Teilen speichert wie bei einem Puzzle, wo alle Teile zusammen ein Bild entstehen lassen. 
Bei Kalles Opa ist das anders. Hier lösen sich langsam die Puzzleteile und gehen verloren. Das "Puzzle-Beispiel" ist perfekt gewählt, denn genau wie Kalle können sich die Kinder sehr gut vorstellen, wie es ist, wenn bei einem Puzzlebild Teile fehlen. Man kann dies auch parallel (oder anschließend) zum Vorlesen mit einem vorbereiteten Puzzle zeigen, aber auch im Buch finden wir ein recht anschauliches Bild. Parna Kim zeigt in ihrer kleinen Illustration wie Kalle vor seinem Feuerwehr-Puzzle sitzt.
Auch hier fehlen Teile und das wirkt schon seltsam. Es fehlen nicht nur Teile, die Wirkung des Bildes ist es, was Kinder verstehen lässt, wie es im Gehirn aussehen muss, wenn überall Teile fehlen.
Bei Kalles Opa fehlen langsam immer mehr Teile. Er braucht immer mehr Hilfe bei Dingen, die Kalle auch erst lernen musste, aber nun alleine kann, wie z.B. Zähneputzen oder Waschen. Aber das ist noch nicht alles. Es gibt Situationen, da verhält er sich merkwürdig oder will Dinge machen, die nicht gut sind. Wenn er dann aufgehalten wird, reagiert er wütend. Es passiert auch, dass er denkt, er sei noch ein Kind und nicht weiß, dass er bereits ein alter Mann ist, oder er geht einfach im Bademantel aus dem Haus, um zur Arbeit zu gehen, obwohl er schon lange in Rente ist.
Und so kommt es, dass Kalles Opa irgendwann nicht mehr zu Hause wohnen kann. Er kommt in ein Pflegeheim, wo sich liebevoll um ihn gekümmert wird und viele alte Leute sind, denen es ähnlich geht. Doch damit ist die Verantwortung und Fürsorge nicht vollständig abgegeben. Auch hier erzählt Ruth Katharina Breuer sehr lebensnah, wie sich die Familie einbringt und wie die voranschreitende Demenz den Opa immer mehr vergessen lässt. Früher ist der Opa zu Kalle gekommen, um ihm vorzulesen, nun kommt Kalle zu Opa, um ihm vorzulesen.
Die Veränderungen des Großvaters sind ein wesentlicher Bestandteil des Buches, es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, der wichtig ist, und das ist Kalles Gefühlswelt.
Kalle muss miterleben, wie sein geliebter Opa immer mehr vergisst und so kommt natürlich auch der Gedanke auf: "Verliert Opa mich jetzt auch?" (Zitat) Der Gedanke macht Kalle sehr traurig. Es fühl sich an, als hätte er einen Kloß im Bauch. "Im Hals hat er ein Ziehen und seine Augen fangen an zu schwimmen." (Zitat) 
Seine Mutter nimmt ihn liebevoll in den Arm und tröstet ihn.
Was sie Kalle mit auf den Weg gibt, ich hier aber noch nicht teile, ist wirklich tröstend.
Es tröstet bestimmt nicht nur Kalle, sondern alle, die einen Angehörigen mit Demenz haben.

Ruth Katharina Breuer findet sehr einfühlsam und anschaulich Worte, wo viel Erwachsene vielleicht gerade keine Worte finden, weil sie viel zu tief in ihrer eigenen Hilflosigkeit, Ohnmacht oder Trauer gefangen sind. 
Das Thema Demenz ist ähnlich wie das Thema Tod ein Thema, das die ganze Familie trifft.
Für die Erwachsenen, die mit ansehen müssen, wie der geliebte Partner, die geliebte Partnerin, der geliebte Vater oder die geliebte Mutter langsam in eine Welt entschwindet, zu der man kaum noch Zugang findet, ist emotional sehr belastend. Aber da sind dann noch die Kinder, für die man da sein muss, denen man versuchen muss, etwas zu erklären, was man selbst vielleicht noch gar nicht emotional verstanden hat.  Hier ist es extrem hilfreich, ein Buch wie dieses zu haben, dass man den Kindern vorlesen kann, in dem viel erklärt wird, in dem Dinge passieren, die vielleicht auch bei einem in der Familie passiert sind, wo man Parallelen findet und sich dadurch ein wenig aufgefangen fühlt, weil man nicht mehr das Gefühl hat, dass es einem alleine so geht.

Ruth Katharina Breuer hat hier einen interessanten Erzählstil. Sie blickt einerseits zurück und ist dann wieder im "Jetzt".
Wichtig zu wissen ist vielleicht auch, dass die Geschichte erst einmal wie eine Entdeckungsreise ist, ohne dass hier Kalles Gefühle eine Rolle spielen. Es ist also keine traurige Geschichte, sondern ehr eine berichtende, in der Kalles Opaliebe und Kalles Opa-Fürsorge deutlich zu spüren ist. Kinder gehen meist sehr intuitiv mit den geschilderten Situationen um. Sie finden in ihrer kindlichen Unvoreingenommenheit und Sorglosigkeit oft Wege zu einem Demenzkranken vorzudringen, die Erwachsene nicht so leicht finden, was aber nicht heißt, dass es sie kalt lässt. Ruth Katharina Breuer schafft es, genau das in ihrer Geschichte zu vermitteln und genau dieser geschaffte Spagat ist es, der das Buch so wertvoll macht.
Es ist nicht nur ein Buch für betroffene Familien.
Es ist auch ein Buch, das man einfach so mit Kindern lesen kann (und auch sollte). Genau wie bei dem Thema Tod ist es gut, wenn Kinder nicht erst mit den Themen in Berührung kommen, wenn es einen Vorfall in der Familie gibt, sondern schon vorher davon gehört haben.
Vielleicht gibt es im Freundeskreis des Kindes jemanden, in dessen Familie ein Demenzkranker lebt, vielleicht ein Nachbar oder eine Nachbarin. Vielleicht trifft man im Park oder im Supermarkt jemanden, der sich seltsam verhält. Es gibt so viele Situationen in unserem Alltag, wo es gut ist, wenn wir für das Thema Demenz sensibilisiert sind, und so ist die Sensibilisierung ein zusätzlicher Beweggrund, das Buch mit Kindern zu lesen.
Begleitet wird die Geschichte von sehr realitätsnahen Illustrationen, die allesamt Wiedererkennungswert haben. 
Bleibt noch die Frage, ab welchem Alter das Buch vorgelesen werden kann.
Und auch wenn ich mich selten genau festlege und ehr dazu tendiere, die Altersangabe etwas früher zu setzten, sollte man hier aufgrund des Themas und der Textmenge schon sagen, dass es für Kinder ab 4 Jahren geeignet ist. Viele werden sagen ehr ab 5 Jahren, doch die Erfahrungen zeigen, das es viele 4 -Jährige gibt, die gebannt zuhören und sehr gut verstehen, was in der Geschichte passiert. Es kommt immer aufs Kind und die Vorlesegewohnheiten an. Kinder, denen viel vorgelesen wird, finden vermutlich früher einen Zugang zu der Geschichte, wie Kinder, denen weniger vorgelesen wird.
Sollte dieses Buch also für ein Kind sein, dass wenig vorgelesen bekommt und die Geschichte als Erklärungshilfe genutzt werden, dann empfehle ich es für Kinder ab 5 Jahren. Ist es allerdings für ein Kind, das viel vorgelesen bekommt und auch längeren Geschichten schon aufmerksam lauscht, dann ist es problemlos für Kinder ab 4 Jahren geeignet.

Ich bin sehr froh, dass sich Ruth Katharina Breuer und Paran Kim sich dem Thema Demenz angenommen haben und dieses wundervolle Buch gestaltet haben, dass sowohl eine schöne Geschichte also auch eine wertvolle Begleitung ist.